– Der Bücherschrank

Früher, in meinem früheren Leben also, war ich eine Telefonzelle. Sie können sich nicht vorstellen, was ich mir alles anhören konnte: Liebesdramen, Versöhnungsschwüre, Eifersuchtsszenen, den Austausch von Kochrezepten, die letzten Urlaubserlebnisse oder die Verabredung zu einem Banküberfall. In aller Regel stank ich nach kaltem Zigarettenrauch, an einer Schnur hing ein zerfleddertes Telefonbuch, komplett unleserlich.

Dann wurde ich ausrangiert. Nicht mehr gebraucht, nutzlos, weil jeder Mensch spätestens, seit er laufen kann, ein eigenes Mobiltelefon hat, in das er egal wo hineinschreit.

Traurig stand ich in der Ecke, bis ein findiger Mensch beschloss, mich umzutaufen: statt Telefonzelle jetzt Bücherschrank. Und all das, was ich mir in meinem früheren Leben anhören musste, findet sich jetzt in gedruckter Form in meinem Innenleben: Liebesdramen, Eifersuchtsgeschichten, Kochrezepte und Reisebeschreibungen, Krimis und sogar Micky Maus.

Die Bücher sind auch nicht mehr zerfleddert und ich stinke nicht nach kaltem Rauch. Täglich bekomme ich Besuch, wenn jemand sich ein Buch holt oder mir ein neues schenkt. Die Menschen hier passen gut auf mich auf und in meinem neuen Leben fühle ich mich sehr wohl.